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Reutte
Reutte, Marktgemeinde und Hauptort des Bezirks Reutte, ist in einem Talkessel des Außerfern am unteren Lech gelegen. Das Außerfern wurde ab dem 10. Jahrhundert entlang der Via Claudia Augusta besiedelt. Reutte gehört dabei zu den jüngeren Orten des Außerfern. 1278 erstmals urkundlich erwähnt, erlangte der Ort durch den Bau der Festung Ehrenberg durch Graf Meinhard II. 1290 und der damit zusammenhängenden Verlegung der Straße nach Augsburg durch Reutte hindurch Bedeutung. Mit dem Bau der Lechbrücke 1464 durch Erzherzog Sigmund war schließlich auch eine äußerst wichtige Verkehrsverbindung nach Westen gegeben (Salzstraße von Hall in Tirol an den Bodensee). 1489 erhob Erzherzog Sigmund Reutte zum Markt. Um 1605 verlegte der Pfleger von Ehrenberg den Sitz des Gerichtes nach Reutte. 1703 brachen in Reutte zwei Brände aus, die beinahe den ganzen Ort verwüsteten. Die nach den Bränden errichteten Barockhäuser zeugen vom damaligen Wohlstand der Reuttener Bürger. Den aufwendigen Fassadenschmuck an Häusern im Ortszentrum verdankt die Gemeinde vor allem dem hier gebürtigen kaiserlichen Hofmaler Johann Jakob Zeiller (1708–1783). Neben den wichtigen Transitstrecken, die Reutte kreuzten, nahm der Ort auch Aufschwung durch den Bergbau im umliegenden Gebiet. Durch seine strategisch günstige Lage kam Reutte aber auch immer wieder ins Kreuzfeuer kriegerischer Auseinandersetzungen. So 1546 beim Schmalkaldischen Krieg, 1552 beim Einfall des Kurfürsten Moritz von Sachsen, 1632 beim Einfall der Schweden, 1703 beim Spanischen Erbfolgekrieg, 1799 bis 1813 im Zuge der Koalitionskriege. 1611 und 1635 kam es zu großen Pest-Epidemien. Mit dem Bau der Arlbergstraße 1780 verlor Reutte verkehrstechnisch an Bedeutung sowie die wirtschaftliche Anbindung an Tirol, es kam zu einer Auswanderungswelle. Erst die Entwicklung des Ortes zu einem Industriezentrum sowie der Fremdenverkehr verschafften Reutte neuen Aufschwung. Vor allem Metall- und Textilindustrie haben in Reutte lange Tradition. Erst 1913 wurde Reutte an das Eisenbahnnetz angeschlossen. In den Jahren 1944 und 1945 waren am Plansee im Hotel Forelle und im Hotel Ammerwald Außenstellen des Konzentrationslagers Dachau eingerichtet. Amerikanische Truppen konnten am 29. April 1945 kampflos in Reutte einmarschieren, weil ein von Widerstandskämpfern ausgeführtes Attentat auf die Kreisleitung geplante Gefechte verhinderten. Die Bewohner des Ortes hatten weiße Fahnen gehisst.
Im Sommer 1922 halten sich für einige Wochen die Dadaisten Tristan Tzara und Hans Arp in Reutte auf. Mit ihnen Maya Chrusecz (Modistin und Kunstgewerblerin, entwarf Kostüme für die Laban-Schule in Zürich, seit 1917 Partnerin von Tzara), Sophie Taeuber (Malerin und Bildhauerin, Schülerin von Laban, Partnerin und spätere Frau von Hans Arp), Matthew Josephson (Schriftsteller, später Journalist) und seine Frau Hannah, George Sakier (Designer), kurze Zeit Théodore Fraenkel (Dada Paris, Literaturkritiker). Anfang August kommt auch Malcolm Cowley, amerikanischer Schriftsteller und Literaturkritiker, für zwei Wochen nach Reutte. Matthew Josephson übernimmt im August 1922 die Redaktion der dritten Nummer der Zeitschrift Secession, eines der Publikationsorgane der in Europa gestrandeten amerikanischen Intellektuellen. Die Dadaisten steuern ausgiebig Texte bei. Für Tristan Tzara markiert der Aufenthalt in Reutte einen biographischen wie künstlerischen Bruch. Er trennt sich von seiner Partnerin Maya Chrusecz, findet zu neuen Ausdrucksformen. Auch Arp findet in den Jahren 21/22 zu einer neuen Formensprache. Die Dada-Bewegung löst sich auf, die Künstler gehen ihre eigenen Wege. Arp, Taeuber, Sakier verlassen Reutte in der dritten Augustwoche. Ende August reist auch Josephson ab, Tzara bleibt allein zurück. Es entsteht das Triptychon Landschaften und Unfälle, Mit dem Mond hat es ein übles Ende genommen, Eulen. Jüngst gemachte Erfahrungen und Wahrnehmungen fließen in diese Arbeit ein. Anfang September übersiedelt Tzara nach Füssen. Ab 19. September nimmt er gemeinsam mit Arp an einem Konstruktivistenkongress in Weimar teil, wo er eine Grabrede für Dada hält.
Quellenangabe: Bauer, Franz; Keller, Wilfried; Leitner, Walter; Lipp, Richard; Palme, Rudolf; Palme-Comploy: Reutte. 500 Jahre Markt. 1489 - 1989. Reutte 1989.
Lipp, Richard: Außerfern. Der Bezirk Reutte. Innsbruck; Wien: Tyrolia 1994.
Pfaundler-Spat, Gertrud: Tirol-Lexikon. Ein Nachschlagewerk über Menschen und Orte des Bundeslandes Tirol. Vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage. Innsbruck: StudienVerlag 2005.
Schrott, Raoul: Dada 21/22. Musikalische Fischsuppe mit Reiseeindrücken. Eine Dokumentation über die beiden Dadajahre in Tirol & ein Fortsatz: Gerald Nitsche. Dada und danach. Innsbruck: Haymon 1988.
Schrott, Raoul: Dada in Tirol 1921 – 1922. In: Dankl, Günther; Schrott, Raoul (Hrsg.): Dadautriche. 1907 – 1970. Innsbruck: Haymon 1993. 81–91.
Verfasser/in: Iris Kathan
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