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Vent
Im hintersten Winkel des Ötztals versteckt, umgeben von rauer Hochgebirgslandschaft, liegt Vent auf 1895 m Seehöhe. Gerade zehn Minuten benötigt man von einem Ende des Dorfes an das andere, das neben einer kleinen Kirche und einer ehemaligen Totenkapelle vor allem über Hotelbauten verfügt und zwischen den Saisonen wie ausgestorben daliegt. Verkehrstechnisch lange isoliert und abseits der Hauptverkehrsrouten gelegen, unterscheidet sich das Gebirgsdorf, so wird erzählt, von anderen Dörfern des Tales. Für Reisende des frühen 19. Jahrhunderts noch unberührtes Neuland, wird die Gegend mit ihrer alpintouristischen Erschließung in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts entdeckt und nicht zuletzt durch Schriftsteller/innen fortan immer wieder neu erfunden. Die Bandbreite der Literarisierungen reicht dabei von (Reise-)Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis zu den Texten Norbert Gstreins, der den Ort der eigenen Herkunft mehrfach fiktionalisiert, dabei mit Ver- wie Entortungen spielt und Ortsmythen konsequent dekonstruiert.
Kein anderer Ort in den Ostalpen ist von so vielen Gletschern umgeben. Auf eine lange Gletscherforschungstradition zurückblickend wird Vent gerne als „Wiege der Gletscherforschung“ bezeichnet. Insbesondere der Vernagtferner wurde über Jahrhunderte hinweg beobachtet und früh dokumentiert, da seine Vorrückungen immer wieder zu verheerenden Ausbrüchen des Rofner Eissees führten.
Vent wurde – ab 1280 ist hier eine Dauerbesiedlung belegt – vom Süden her besiedelt und liegt an einem seit Jahrtausenden wichtigen Alpenübergang. Die Geschichte des Ortes ist eng mit der Geschichte des Schnalstales verbunden. Noch heute werden jedes Jahr rund 3500 aus dem Schnalstal und dem mittleren Vintschgau stammende Schafe über das Nieder- oder das Hochjoch auf Ötztaler Weiden getrieben.
Die Geschichte des kleinen Ortes ist eng an die Tourismusgeschichte Tirols gekoppelt. Von 1860 bis 1872 ist Franz Senn Kurator von Vent, auf dessen Initiative 1869 der Deutsche Alpenverein gegründet wird. Man spricht deshalb auch von Vent als „Geburtsort des Deutschen Alpenvereins“. Senn, eine wichtige Identifikationsfigur für das Ötztal wie Tirol insgesamt, setzt sich unter anderem für eine professionelle Ausbildung der hiesigen Bevölkerung zu Bergführern ein, investiert in den Ausbau von Schutzhütten und Wegnetzen. Schon 1866 beschreibt Adolf Schaubach in seinem Handbuch Die Deutschen Alpen Vent als den eigentlichen „Mittelpunkt für den Fernwanderer Tirols“. Und der Reiseschriftsteller Ludwig Steub, der erstmals im August 1842 durch Vent und über das Niederjoch nach Südtirol wandert und seine Eindrücke im Reisebuchklassiker Drei Sommer in Tirol (1846) festhält, schreibt in einer Neuauflage seines Buches von 1871: „Vent ist seitdem für Touristen bekanntlich ein klein Paris geworden.“ Heute zählt der Ort rund 150 Einwohner und 900 Fremdenbetten. Im Gegensatz zu Sölden und Gurgl, die intensiv in den Ausbau von Liftanlagen investiert haben, steht Vent dennoch für einen sanften Tourismus.
In Vent aufgewachsen ist der Schriftsteller Norbert Gstrein, dessen Vater hier Inhaber des Hotels Similaun und Schischulleiter war. Insbesondere in seinen frühen Prosatexten hat Gstrein den Herkunftsort wiederholt konstruiert wie dekonstruiert. Die 1935 nach Plänen von Hans Feßler erbaute Pension Gstrein gehörte dem Großvater des Autors und dürfte wohl Vorbild gewesen sein für den Schauplatz in Norbert Gstreins literarischem Debüt, der Erzählung Einer (1988). Schauplatz ist Vent und die Gegend um Vent auch in Wilhelmine von Hillerns Unterhaltungsroman Die Geier-Wally. Eine Geschichte aus den Tyroler Alpen (1875). Im Sommer 1888 hält sich der Schriftsteller Max von Eyth in Vent und Gurgl auf. 1933 verschwindet der französische Schriftsteller Julien Torma in den Bergen um Vent. In der Zwischenkriegszeit galt der Ort dem Komponisten und Schriftsteller Ernst Krenek als eine der liebsten Reisedestinationen. Die Gletscherwelt um Vent soll ihn zu seiner Oper Jonny spielt auf (UA 1927) inspiriert haben.
Quellenangabe: Schlosser, Hannes: Vent im Ötztal. Innsbruck: Österreichischer Alpenverein 2012.
Verfasser/in: Iris Kathan
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