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Tarrenz
Das Dorf Tarrenz liegt in der Nähe von Imst an der Durchzugsstraße über den Fernpass. Schon zur Römerzeit verlief durch den Ortsteil Strad gegenüber von Tarrenz am Fuße des Tschirgant die Via Claudia Augusta über den Fernpass. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird Tarrenz als eigener Ort genannt. Zu dieser Zeit lebte das Geschlecht der Starkenberger auf Burg Altstarkenberg, die sich oberhalb von Tarrenz am Eingang der Salvesenschlucht erhob. Die Starkenberger, vermutlich als Ministerialen der Staufer ins Land gekommen, entwickelten sich im Laufe des 13. Jahrhunderts zu einem der mächtigsten und wohlhabendsten Adelsgeschlechter im Tiroler Oberland. Vom Minnesänger Hartmann von Starkenberg sind in der Heidelberger Liederhandschrift drei Lieder erhalten. Zwischen 1317 und 1331 ließ man die Burg Neustarkenberg errichten. Anfang des 15. Jahrhunderts erhoben sich die Starkenberger gegen Friedrich IV. Bei dieser Auseinandersetzung mit den habsburgischen Landesherren verloren sie ihr Hab und Gut. Ihre Stammburg Altstarkenburg wurde völlig zerstört, Burg Neustarkenberg, die in landesfürstlichen Besitz übergegangen war, blieb erhalten. Seit 1810 befindet sich in ihr eine Bierbrauerei. Von einem Wohnturm in der Salvesenschlucht, der so genannte „Föllture, – vermutlich diente er als Behausung für die Gefolgsleute der Starkenberger – ist nur mehr eine Ruine erhalten. Viele Geschichten und Sagen ranken sich um diesen Turm und die Starkenberger, die in Legenden als Raubritter eingegangen sind. Im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit wurde im Süden des Tschirgant sowie in den Bergen nördlich von Tarrenz nach Metallen geschürft, Ende des 18. Jahrhunderts aber kam der Bergbau zum Erliegen. Das Dorf verarmte. Als Vogelhändler zogen manche Tarrenzer und Imster in die Welt, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem spezialisierte man sich in Tarrenz auf die Produktion von Sensen und Nägeln, die im Oberland vertrieben wurden. Viele Bewohner von Tarrenz fanden auch in der Imster Textilindustrie Arbeit. Seit dem zweiten Weltkrieg zählt der Tourismus zu den wichtigsten Einnahmequellen des Ortes.
Mehr oder weniger zufällig avancierte Tarrenz in den Sommermonaten 1921 und 22 zu einem Austragungsort der Dada-Bewegung. Im Spätsommer und Herbst 1921 kommt es auf Vorschlag von Max Ernst, der hier seinen Urlaub verbringt, zu einer ersten Zusammenkunft von Dadaisten in Tarrenz. Es reisen an: Tristan Tzara (Mitbegründer der Züricher Dada-Bewegung, seit 1919 in Paris) mit seiner Partnerin Maya Chrusezs, Johannes Theodor Baargeld (ehemaliges „Mitglied“ von Dada Köln, 1920 ausgestiegen) und dessen Bruder Heini, Hans Arp (Dada Zürich). Später folgten André Breton (Dada Paris) mit seiner Frau, und schließlich, Anfang Oktober, die meisten sind inzwischen wieder abgereist, Paul Eluard (Dada Paris) mit seiner Frau Gala (spätere Frau von Salvador Dalí). Man logiert im Gasthof Sonne, Eluard und Breton später im ehemaligen Schlösschen Hotel Post in Imst. Die Inflation lockt viele Künstler nach Tirol, als „Devisenausländer“ lässt es sich hier sehr günstig leben. Die Dadaisten frohlocken über das billige Leben in Tirol und landschaftliche Erfahrungen fern ab der Metropole Paris, wo es seit 1920 zu zunehmenden Kontroversen innerhalb der Dada-Bewegung gekommen war. Schnee fällt im August, die Auseinandersetzung mit der umgebenden Natur fließt in die Arbeit ein. Man bleibt unter sich, sucht kaum Kontakt zu den Einheimischen. Es herrscht in diesen Wochen ein ausgelassenes und produktives Klima unter den Anwesenden. Neue künstlerische Ausdrucksformen werden gefunden, es entstehen Gemeinschaftsarbeiten (Aufruf zu einer letzten Alpenvergletscherung), die achte und letzte Nummer der Zeitschrift DADA – das Tirol-Manifest Dada au grand air / Der Sängerkrieg in Tirol – entsteht (auch als eine Antwort auf die Angriffe Francis Picabias in Le Pilhaou-Thibaou) und wird in Innsbruck gedruckt.
Im darauffolgenden Jahr treffen sich Paul Eluard und Max Ernst Ende März in Köln und reisen anschließend gemeinsam mit ihren beiden Frauen Luise Straus und Gala nach Tarrenz, um Ski zu fahren. Erste Texte für ein gemeinsames Buchprojekt entstehen. Wenige Wochen später treffen sich die Paare erneut in Tarrenz, wo sie im Starkenberger Schlösschen Quartier beziehen und bis Mitte Juli in einem Doppelhaushalt leben. Man verbringt die Tage am Starkenberger See, Eluard und Ernst arbeiten an dem Gemeinschaftstext Malheurs des Immortels, der am 25. Juni in Innsbruck gedruckt wird. Die ménage à trois zwischen Gala, Ernst und Eluard, die schon bei einem Besuch der Eluards in Köln im November 1921 begonnen hatte, findet in Tarrenz ihren Höhepunkt. Ernst verlässt seine Frau und reist mit Gala nach Paris.
Tristan Tzara versucht im Frühsommer 1922 eine weitere Zusammenkunft von Dadaisten in Tirol zu initiieren, was ihm nicht gelingt. Lediglich der Amerikaner Matthew Josephson ist interessiert und bewegt einige Landsleute dazu, den Sommer in Tirol zu verbringen: William Slater Brown, Harold Loeb, Virgil Thomson, Malcolm Cowley, George Sakier. Außer Loeb und Cowley treffen alle Anfang Juni in Imst ein. Tzara kommt am 1. Juli nach Imst (Gasthof Post), wo er Maya, Josephson und die anderen trifft. Kurz nach Tzara treffen Hans Arp und Sophie Taeuber in Imst ein und logieren ebenfalls im Gasthof Post. Auch Théodore Fraenkel stößt zu der Gruppe, kehrt jedoch, angeödet von Tirol, bald wieder nach Paris zurück. Es herrscht nicht mehr die produktive Stimmung des vorherigen Sommers. Vieles hat sich verändert. Während die einen beim Starkenberger Schlösschen Quartier bezogen haben, logieren die anderen in Imst. Man trifft sich selten. Auseinandersetzungen verschieben sich ins Private. Beziehungen gehen in die Brüche, es kriselt. Ernst reist Mitte Juli überstürzt ab, Eluard folgt Ende Juli. Anfang der dritten Juliwoche verlassen auch Tzara und die anderen Imst und wandern zu Fuß nach Reutte, der letzten Station ihres Tirol-Aufenthalts.
Quellenangabe: Pfaundler-Spat, Gertrud: Tirol-Lexikon. Ein Nachschlagewerk über Menschen und Orte des Bundeslandes Tirol. Vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage. Innsbruck: StudienVerlag 2005.
Riha, Karl (Hrsg.): DADA total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. In Verbindung mit Angela Merte hrsg. von Karl Riha und Jörg Schäfer. Stuttgart: Reclam 1994.
Schatz, Walter: Chronik von Tarrenz. Innsbruck: Tiroler Landesarchiv (Ortschroniken, 24).
Schrott, Raoul: Dada 21/22. Musikalische Fischsuppe mit Reiseeindrücken. Eine Dokumentation über die beiden Dadajahre in Tirol & ein Fortsatz: Gerald Nitsche. Dada und danach. Innsbruck: Haymon 1988.
Spat, Gertrud: Die Dadaisten in Tirol. In: das Fenster, 5 (1969).
Steinwendtner, Brita: Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften. Innsbruck [u.a.]: Haymon 2007.
http://www.geschichte-tirol.com/orte/nordtirol/bezrik-imst/155-tarrenz.html. (21.07.10)
Verfasser/in: Iris Kathan
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