„Ein Dorf in einem engen Tal zwischen den Bergen, wo die Sonne nur ein paar Monate im Jahr hinfindet. Dort hatte ein befreundetes Ehepaar ein altes Bauernhaus, wo wir sie öfters besuchten. Zuerst fuhr man mit dem Zug, dann mit einem Auto, bis man in ein Wägelchen mit einem kleinen störrischen Pferd umsteigen mußte, das uns auf schmalem Weg in die Höhe brachte. Von dort aus brachten wir das Gepäck auf einem Handkarren zum Haus.
Dieses Dorf war damals derart versteckt und unbekannt, daß man das Gefühl hatte, von der Gegenwart in die Vergangenheit zu kommen. Ödön studierte die Bauern und die dortigen Gepflogenheiten sehr genau. Seine Schreibmaschine war ein derartiges Wunder, daß während der Arbeit ständig die Tür leise geöffnet wurde und immer wieder Leute aus dem Dorf dastanden und staunten. Ödön schrieb dann in einer Berliner Zeitung über Land und Leute aus diesem Winkel. Er beschrieb die Hurenbank in der Kirche, auf der jedes Mädchen, das ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte, sitzen mußte, den Pfarrer, der beim Anblick unserer ärmellosen Kleider weinte, die Freund- und Feindschaften der Dorfbewohner und ihre altertümlichen Gepflogenheiten. Als wir im nächsten Jahr wieder dort nachts gemütlich unter der Petrollampe saßen – die Läden waren geschlossen – begann ein fürchterlicher Lärm mit Kuhglocken, Johlen, Schreien und dann einem seltsamen Geräusch an der Hauswand, bis wir am bestialischen Gestank merkten, daß die Dorfbewohner das Haus bis zum ersten Stock mit Schweinemist eingestrichen hatten und dann abgezogen waren. Es war ein richtiges ‚Haberfeldtreiben‘. Wir fühlten uns unseres Lebens dort nicht mehr sicher. Jedenfalls verließen wir das Dorf bald, und Ödön konnte sich dort nie mehr sehen lassen. Sein Artikel blieb unvergessen.“ (Gustl Schneider-Emhardt: Erinnerungen an Ödön von Horváths Jugendzeit. In: Horváth Blätter 1 (1983). Edition Herordot 1983, 74.)

Edmund (Ödön) Josef von Horváth wird 1901 in einem Vorort von Fiume (heutiges Rijeka) geboren. Sein Vater, Edmund Josef von Horváth, ist Diplomat, zahlreiche Ortswechsel prägen Horváths Kindheit und Jugend. Er lebt in Belgrad, Budapest, München, Preßburg und Wien, wo er schließlich auch das Abitur macht. Im Herbst 1919 zieht Horváth zu seinen Eltern nach München, wo er sich an der Ludwig-Maximilians-Universität immatrikuliert. 1923 übersiedelt er in die Villa seiner Eltern in Murnau, wo er sich intensiv der schriftstellerischen Arbeit zu widmen beginnt, vieles aber auch wieder verwirft. Nach einer Paris-Reise im Herbst 1924 mit den Eltern und seinem Bruder Lajos entschließt er sich nach Berlin zu übersiedeln. 1931 erhält Horváth auf Vorschlag von Carl Zuckmayer den Kleist-Preis, sein wohl berühmtestes Stück, Geschichten aus dem Wiener Wald, wird in Berlin uraufgeführt. Als 1933 das elterliche Haus in Murnau von einem SA-Trupp durchsucht wird, verlässt er Deutschland und reist über Salzburg nach Wien. Vorwiegend hält er sich von nun an in Wien und in Henndorf bei Salzburg auf. Da seine Stücke kaum noch aufgeführt werden, verschlechtert sich seine finanzielle Situation zunehmend. 1937 erscheint der Roman Jugend ohne Gott und ist ein großer Erfolg. Mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verlässt Ödön von Horváth im März 1938 Wien. Über Budapest, Jugoslawien, Triest, Venedig und Mailand reist er nach Zürich, von wo aus er über Brüssel und Amsterdam weiter nach Paris fährt, um sich mit Armand Pierhal, dem Übersetzer von Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit, und Robert Siodmak zu treffen, der Jugend ohne Gott verfilmen will. Am Abend des 1. Juni 1938 wird Horváth, er beabsichtigt am nächsten Morgen zurück nach Zürich zu reisen, bei einem Unwetter durch einen herabstürzenden Ast gegenüber dem Théâtre Marigny erschlagen.

Ödön von Horváth ist nur 36 Jahre alt geworden. In Zusammenhang mit seinem Bühnenwerk wird häufig von einer Wiederbelebung des Wiener Volksstücks gesprochen. Häufig beschäftigte er sich in seinen Stücken und seiner Prosa sozialkritisch mit dem Kleinbürgertum, dessen verborgenen Wünsche, Triebe und Abhängigkeiten er anhand der Sprache demaskierte.